lunes, 24 de mayo de 2010

Sonderzug in die Freiheit

Anfang Oktober 1989 rollte der erste Zug mit Botschaftsflüchtlingen aus Prag in Richtung Westen. Als er durch die DDR fuhr, demonstrierten Tausende entlang der Strecke - oder versuchten, aufzuspringen. Nun machten sich Flüchtlinge von damals noch einmal auf die Gänsehaut-Fahrt. Von Christoph Gunkel.

Es ist 7.35 Uhr in Prag und Brigitte Meyer wartet auf den Zug, der einst ihr Leben veränderte. Der Zug, der ihr jene Freiheit brachte, von der sie jahrelang nur geträumt hatte. Der Zug, der sie aus einem Staat brachte, dem sie nicht mehr vertraute.

Für Brigitte Meyer ist diese Bahnfahrt eine Reise in die Vergangenheit: Vor genau 20 Jahren durften Tausende DDR-Bürger, die in die bundesdeutsche Botschaft in Prag geflüchtet waren, mit Zügen der DDR-Reichsbahn in den Westen ausreisen. Jetzt fährt exakt so ein Zug noch einmal die historische Strecke von Prag bis ins bayerische Hof. "Zug der Freiheit" steht auf der blauen Anzeigetafel an Gleis eins am Prager Hauptbahnhof. Als eine rote Lok langsam die leicht verschmutzten grün-beigen Waggons auf das Gleis manövriert, wird die Vergangenheit für die heute 55-Jährige wieder sehr lebendig.

Zum Beispiel die Erinnerung an den berühmtesten Halbsatz der deutschen Geschichte, gesprochen vom damaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Brigitte Meyer hat ihn damals mit eigenen Ohren gehört - und noch heute, so sagt sie, jagen ihr diese Worte eine Gänsehaut über den Rücken: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...", hatte der deutsche Außenminister am 30. September 1989 auf dem Balkon der Prager Botschaft angesetzt. Der Rest war im tosenden Jubel der etwa 4500 Botschaftsflüchtlinge untergegangen, die dort teils seit Monaten unter schlimmsten hygienischen Bedingungen ausharrten. Mit einem unvollendeten Satz schienen alle Probleme beseitigt.


War der Umweg eine Falle?

Doch das wahre Drama begann erst nach Genschers legendären Worten. Denn anschließend verkündete der Politiker die Bedingungen, unter denen der SED-Staat zugestimmt hatte: Die Züge mit den Ausreisern mussten über DDR-Territorium rollen, um den Anschein der "Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft" zu wahren. "Plötzlich kippte die Stimmung", erinnert sich Katrin Bayerl. Sie war im Spätsommer 1989 auf das Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag geflüchtet nachdem ihre Ausreiseanträge über Jahre wieder und wieder abgelehnt worden waren. "Minuten vorher lagen sich die Menschen noch jubelnd in den Armen, jetzt hörte man Buhrufe." Das Misstrauen gegenüber dem eigenen Staat war riesig. Klang der Umweg über die DDR nicht wie eine Falle?

Minister Genscher versuchte, die Menge zu beruhigen. Als wenige Stunden später die ersten Flüchtlinge in Bussen zum Prager Bahnhof fuhren, schwankte die Stimmung zwischen Angst und Euphorie. Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass die DDR mal eben ein paar Tausende ihrer Bürger ausreisen lassen würde. "Erst war mir auch mulmig zumute", erzählt Brigitte Meyer. "Aber dann habe ich am Bahnhof die vielen Journalisten gesehen. Die ganze Welt guckte doch auf uns, von Japan bis Amerika, das hat geholfen." Doch obwohl sie versuchte, sich nicht von der Hysterie anstecken zu lassen, fand sie keine Ruhe. Sie fuhr ins Ungewisse. Was würde sie in der Bundesrepublik erwarten? Würde sie Arbeit finden? Was würde aus ihrem Sohn, der nicht mit ihr flüchten wollte?

"Ich habe die Entscheidung nie bereut", sagt sie genau 20 Jahre später. Draußen fliegt die malerische Landschaft der Sächsischen Schweiz vorbei. Brigitte Meyer sitzt in Blazer und Turnschuhen wieder in einem Zug der ehemaligen DDR-Reichsbahn und mustert mit einem verschmitzten Lächeln den Waggon mit seinem Birkenholzimitat und den tiefroten Kunststoffsitzen. Diesmal könne sie die Fahrt richtig genießen, sagt sie. Und erzählt von den Handtüchern und weißen Bettlaken, mit denen Hunderte DDR-Bürger entlang der Zugstrecke den Flüchtlingen zum Abschied begeistert zujubelten. Das hat ihr damals viel Trost gegeben, "weil damit klar war, wie viele nicht mehr hinter diesem System standen".

(...)


"Es war gar nicht so einfach, nicht verprügelt zu werden"

Vor allem tat sich Honecker keinen Gefallen mit seiner Bedingung, alle Züge müssten über DDR-Gebiet fahren. Entlang der Strecke jubelten Tausende unzufriedene DDR-Bürger den Flüchtlingszügen zu, Hunderte versuchten gar verzweifelt, auf die fahrenden Züge aufspringen. Die Orte entlang der Route wurden zu brodelnden Unruheherden, vor allem am Dresdner Hauptbahnhof kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Bürgern.

Der Kontrast zu damals könnte heute kaum größer sein. Friedlich fährt der "Zug der Freiheit" im Dresdner Hauptbahnhof ein. Eine Gruppe Hornisten spielt, Passanten strömen zu den Waggons. Auch vor 20 Jahren wollten etliche Dresdner auf die Bahnsteige, als sie über die Westmedien erfuhren, dass in der Nacht zum 5. Oktober hier Flüchtlingszüge durchfahren würden. Als rund 20.000 Menschen daraufhin den abgeriegelten Hauptbahnhof stürmten, kam zu den wohl heftigsten Unruhen seit dem Volksaufstand 1953. Sieben Vopo-Hundertschaften, etliche Stasi-Mitarbeiter und vier Bataillone der Nationalen Volksarmee mussten gerufen werden, um die "Zusammenrottung feindlich-negativer Kräfte" aufzulösen. Hunderte Demonstranten wurden festgenommen. "Alle eingesetzten Genossen der Deutschen Volkspolizei und unsere Kräfte haben Großes geleistet", meldete der örtliche Stasi-Chef am Ende stolz.

Initiator Sennewald stand damals als 15-Jähriger selbst am Bahnhof im sächsischen Freiberg, um einen Blick auf einen der Flüchtlingszüge zu erhaschen. Was er erlebte, brannte sich in sein Gedächtnis ein, weil es nicht zum Selbstbild der friedlichen DDR passte: "Das war ein Schock. Überall war Polizei mit Schlagstöcken und Hunden. Die hatte sogar Wasserwerfer aufgefahren - dabei gab es die doch offiziell gar nicht." Mit brutaler Gewalt räumte die Volkspolizei den Bahnhof, bevor die Flüchtlingszüge durchfuhren. "Es war gar nicht so einfach, nicht verprügelt zu werden", erinnert sich Sennewald.

Hetze im "Neuen Deutschland"

Zwei Jahrzehnte später wird der "Zug in Freiheit" im Freiberger Bahnhof so empfangen, wie es sich Sennewald damals gewünscht hätte - und Geschichte trifft auf Gegenwart: Über eine große Leinwand flimmern Aufnahmen des Herbstes 1989. Emotional trägt eine Schauspielerin einen Zeitzeugenbericht über Polizeiwillkür vor. Jugendliche entrollen ein Transparent, auf dem "Wir sind das Volk" steht und spielen, mit Megaphonen ausgerüstet, Weltgeschichte nach: "Visafrei bis Hawaii", rufen sie, und: "Keine Gewalt!". Als der "Zug der Freiheit" nach einer Stunde Aufenthalt wieder anrollt, hängen die Fahrgäste aus den aufgerissenen Fenstern und werfen altes DDR-Geld auf den Bahnsteig - wie es 1989 die Flüchtlinge taten, um zornig oder auch heilfroh Abschied zu nehmen.

Die DDR-Spitze hatte damals nur Häme übrig für diese Menschen. Die Ausgereisten hätten "die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus der Gesellschaft ausgegrenzt", hetzte das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" und forderte: "Man sollte ihnen keine Träne nachweinen." Diesen Hass bekam auch Brigitte Meyer spüren, als zugestiegene Stasi-Offiziere begannen, den Fahrgästen die Pässe abzunehmen. "Da war auf einmal absolute Stille im Abteil", erzählt sie. "Die Staatsmacht hat sich noch einmal richtig gezeigt, ein sehr unangenehmes Gefühl."

Dagegen wurden die Flüchtlinge kurz danach in der Bundesrepublik euphorisch aufgenommen. "Ich hätte nie gedacht, dass uns ein ganzes Volk in die Arme schließen würde", berichtet Meyer von dem "unglaublich herzlichen" Empfang in der damaligen westdeutschen Grenzstadt Hof. Als sie 20 Jahre später zum zweiten Mal in ihrem Leben in einem DDR-Zug aus Prag in Hof einrollt, gibt es zwar keine Blumensträuße, Schokolade und kein Überbrückungsgeld mehr - dafür wird ein Denkmal eingeweiht, das künftig an die historische Ankunft der Flüchtlinge erinnert. Und noch etwas ist diesmal völlig anders: Diesmal fährt der Zug leer zurück - 1989 sammelte die Reichsbahn auf dem Rückweg durch die DDR statt Flüchtlingen ein paar tausend FDJler ein, um sie als Staffage für die Jubelfeier zum 40. DDR-Geburtstag nach Ost-Berlin zu karren. Es sollte der letzte sein.

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